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Gedenkworte zum Heimgang
von  Ida Friederike Görres
Prof. Dr. Joseph Ratzinger

gehalten von PROF. DR. JOSEPH RATZINGER 

beim Requiem im Freiburger Münster am 19.5.1971

Die Kirche feiert ihren Gottesdienst, indem sie des Todes ihres Herrn gedenkt. Sie tut es dankend, weil sie weiß, daß dieser Tod der Welt das Leben geschenkt hat. Von solchem Wissen her wagt es die Kirche, auch an den Gräbern ihrer Toten dankend zu stehen: Sie darf es, weil sie daran glaubt, daß der Tod derer, die an Jesus Christus glauben, hineingehalten ist in Seinen Tod und damit hineingehalten in Seine Auferstehung, zum Voraus überwunden, keine Zerstörung, sondern nur Übergang in eine neue und endgültige Weise des Seins mit Gott und des Seins mit allen, die dem Herrn zugehören.

Dennoch, menschlich gesprochen, ist dies etwas Unerhörtes und manchmal empfinden wir dies Ungeheuerliche auch, so wenn am offenen Grabe die Worte aus dem Lobgesang des Zacharias angestimmt werden, die dort der Geburtsgesang auf ein lang erwartetes Kind gewesen waren: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, weil er Sein Volk heimgesucht und ihm Heil gewährt hat.“ Angesichts von Tränen und Schmerz, angesichts aller Not und Verlassenheit, die der Weggang eines Menschen bedeuten können, preist die Kirche Gott und sieht in diesem Todesgeschick Seinen Besuch, Seine Nähe, die Heil gibt. Und schon zuvor, im Zentrum der Liturgie, ertönen die Worte: „Es ist wahrhaft würdig und recht, billig und heilsam, Dir o Gott, immer und überall zu danken — auch in dieser Stunde.“

Auch in dieser Stunde: Können wir danken? Können wir danken beim Tode von Ida Friederike Görres, mit der uns mitten in einer Wüste von Konformismus oder verlegenem Schweigen eine Stimme genommen worden ist, die in dieser Situation der Kirche unersetzlich scheint? Sie hat mit einer sehenden Sicherheit und mit einer Unerschrockenheit zu den drängenden Fragen und Aufgaben der Kirche von heute gesprochen, die nur dem wahrhaft Glaubenden geschenkt ist. Und wo gibt es noch solche Stimmen?

Dabei ist ihr all dies nicht einfach zugefallen. Sie war im liberalen Katholizismus der ausgehenden Donaumonarchie aufgewachsen. Die klösterliche Erziehung schuf Zugang zum Glauben, Beheimatung in ihm, aber alles blieb merkwürdig abgestanden, unlebendig, trocken. Die große Wende, die ihren ganzen weiteren Weg bis zuletzt bestimmte, brachte das Begegnen mit der Jugendbewegung. Nun ging ihr auf, was fortan Zentrum ihres Denkens und Wirkens blieb: die lebendige Kirche. Sie begriff, daß Kirche nicht bloß Organisation ist, Hierarchie, Amt, sondern Organismus, der durch die Jahrhunderte wächst und lebt. Sie begriff, daß Kirche nicht bloß der kleine räumliche und zeitliche Ausschnitt ist, dem wir zugehören, sondern daß zur Kirche die ganze Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten und aller Orte gehört. Mit ihren eigenen Worten: Kirche ist „nicht ein System, eine Idee, eine Ideologie, eine Struktur, eine Gesellschaft, sondern das ungeheuere Lebens-Gebilde, das von den Aposteln bis heute existiert, seine Geschichte erfüllend von Jahrhundert zu Jahrhundert, wachsend, sich entfaltend, kämpfend, erkrankend, genesend, sein Schicksal bestehend und der Wiederkunft des Herrn entgegengreifend“ ([„Vertrauen zur Kirche,“ in] Im Winter wächst das Brot, Einsiedeln 1970, S. 114). Eben diese Gemeinschaft aller Zeiten, das Ganze, was vom Herrn her lebt — dies ist die Kirche, in der der Herr selbst weiterhin durch die Zeit geht und sie an Sich zieht.

Von diesem Ausgangspunkt her war ihr eine entscheidende Einsicht ganz selbstverständlich geworden, die es ihr zugleich möglich machte, die Verdunklungen der letzten Jahre zu bestehen und in ihnen Souveränität und Gelassenheit zu wahren: Eine Kirche, die so gebaut ist, muß Kirche der Sünder sein. Noch in ihrem letzten Brief an mich hat sie leidenschaftlich sich für diesen Gedanken eingesetzt: Eine Kirche der Elite — was wäre das schon? Nein, eben dies gehört zur Kirche, daß sie bis in die unterste Armseligkeit des Menschen hinunterreicht, von ihr entstellt, verwundet, oft nahezu völlig verdeckt wird, aber doch gerade so immer wieder das Ganze durchdringt, alle Krankheit ihr eigen nennt und sie eben auf diese Weise hinträgt zum Herrn, der unser aller Schwachheit annehmen wollte.

Gewiß, auch ihr ist es nicht leicht gewesen, konkret fertig zu werden mit einer Kirche, die sich selbst nicht mehr zu kennen scheint, die oft geradezu als ihr eigenes Gegenteil auftritt. Eine ihrer letzten Veröffentlichungen, die Rede „Vertrauen zur Kirche?“, gibt uns erregenden Einblick in ihr Fragen und Ringen um das immer neu notwendig werdende Sichdurchtasten zur Kirche: „Wie, wenn den Rebellen wirklich die Zukunft gehörte? Wenn dieser Vorgang, der uns wie Zerstörung und Verrat vorkommt, tatsächlich Gottes Wille wäre und ihm zu widerstehen unfromm und kleingläubig? Wenn — quälender Gedanke der Nachmitternachtsstunden —, wenn ich an einen großartigen, doch unaufhaltsam sterbenden Körper gefesselt wäre, durch lauter zwar rührende, doch letztlich unsachliche, unsinnige Hemmungen, Gewohnheiten, Vorurteile, überlebte Pietät, falsch fixierte Treue?... Leben wir auf einem lecken, zollweise versinkenden Schiff, von dem nicht nur die Ratten, sondern einfach die Vernünftigen, Nüchternen rechtzeitig abspringen?“ (Im Winter wächst das Brot, 113).

Aber all dieses Fragen wird doch aufgefangen von einer großen, unzerstörbaren Zuversicht. Es mündet in das einfache und eben darin so großartige Bekenntnis: „Ich glaube an Gottes Treue“ (127). Von dieser Mitte her vermochte sie in der Krise dieses geheimnisvollen Organismus zu bestehen, ja in ihr voranzuschreiten und zu wachsen zu immer tieferem Verstehen. Ich glaube an Gottes Treue — an dieses Wort schließt sich dann geradezu ein Hymnus der Zuversicht, der Hoffnung, der Freude an: „Ich vertraue dem Leiden in der Kirche... Ich glaube an die betende Kirche aus Laien und Priestern, an die duldende, an die sühnende“ Kirche. „Ich glaube an die verborgenen Heiligen“ (ebd. 129). Sie hat selbst, seit langem von Krankheit gezeichnet, in hohem Maß zur leidenden und zur betenden Kirche gehört, zu jener lebendigen Mitte, die unser aller Zuversicht ist. Und in alledem gab es bei ihr keinerlei Fanatismus, keinerlei Erstarrung. Gerade in der Treue, von der sie lebte, blieb sie lebendig, unterwegs. Bis zuletzt ging von ihr eine unverkrampfte Heiterkeit aus, die nur dem Menschen möglich ist, der sich in Übereinstimmung mit der Wahrheit weiß.

Und nun fragen wir nochmals: Können wir danken bei diesem Tod? Ich denke, wir dürfen und müssen ja sagen. Wir danken Gott, daß sie war. Daß diese sehende, mutige und gläubige Frau der Kirche in diesem Jahrhundert gegeben wurde. Wir danken für ihr Wort, für das, was sie vielen Menschen dadurch gewesen ist und weiterhin sein wird. Wir danken für den Weg, den Gott sie geführt hat, Schritt für Schritt. Und wir danken für den Tod, den er ihr gegeben hat: Mitten aus ihrem Zeugnis heraus, aus der Arbeit in einer Synodenkommission ist sie abgerufen worden. Sie war von Freunden zum Urlaub in die Steiermark eingeladen, aber der Dienst war ihr wichtiger — so sehr sie sich auf die heiteren Tage im geliebten Osterreich gefreut hatte. Am Dienst, im Dienst ist sie gestorben. Wir können danken — zutiefst weil wir wissen, daß sie uns gar nicht genommen ist, nur gleichsam ihre Stelle gewechselt hat in der Communio sanctorum, in jener alle Zeiten umspannenden und über alle Grenzen hinweg lebendigen Kirche, an die sie geglaubt und für die sie gelebt hat.

Sie ging einen Weg zu Ende, dessen Ziel für sie Hoffnung war. In der erwähnten Rede steht auch das Zeugnis dieser ihrer Hoffnung: „Die neuen Tabus sind auch zu was gut, selten gehörte Worte entfalten wieder ihre kaum auszuhaltende Wucht“: „Ich bin unterwegs zur ewigen Seligkeit“, „in der vollkommenen Gotteinigung, in der leiblichen Auferstehung in neuem Himmel und neuer Erde“ (ebd. 115 und 116). Ich bin unterwegs zur ewigen Seligkeit — das war für sie keine Phrase, sondern ruhige Gewißheit. Ich bin unterwegs zur ewigen Seligkeit: Wir wollen Gott in dieser Stunde darum bitten, daß Er Sein endgültiges Ja zu solchem Glauben sagen möge. Amen.

Quelle: http://kunstlabor-freiburg.de/publikationen/webII.pdf (S. 18-19)

Auch in Ida Görres, Walter Nigg, and Joseph Ratzinger, Aufbruch - aber keine Auflösung. Brief über die Kirche und anderes, Freiburg: Jung Verlag, 1971, p. 145-151 und Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften (Opera omnia), Band 15.

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